Und warum jetzt noch eine Marx-Biografie?

Michael Heinrich im Gespräch mit Paul Sandner vom Schmetterling Verlag

Am 26. Oktober 1868 schrieb Karl Marx an seinen Freund Ludwig Kugelmann:  „Z. B. Meyers Konversationslexikon hat mir seit längerer Zeit schriftlich eine Biographie abverlangt. Ich habe sie nicht nur nicht geliefert, sondern auf den Brief nicht einmal geantwortet.“ Von Marx hätte es wahrscheinlich keinen Beifall für das hier vorgestellte Projekt gegeben. Aber man kann auch nicht auf alle Befindlichkeiten Rücksicht nehmen.

Paul Sandner: Du hast dich bisher vor allem mit der Marxschen Theorie beschäftigt. 1991 erschien deine Dissertation, die „Wissenschaft vom Wert“, 2004 deine „Kritik der politische Ökonomie. Eine Einführung“, die im deutschsprachigen Raum wohl am weitesten verbreitete Einführung in die drei „Kapital“-Bände. 2008 und 2013 hast du mit den beiden Teilen von „Wie das Marxsche ‚Kapital‘ lesen?“ nachgelegt, einem ausführlichen Kommentar zu den ersten fünf Kapiteln des „Kapitals“. Wieso schreibst du jetzt an einer Marx-Biografie?

Michael Heinrich: Wie so oft im Leben spielt der Zufall eine Rolle und später merkt man, dass das Ganze doch nicht so zufällig war. Ich glaube, es war im Jahr 2006, als mich eine gute Freundin fragte, welche Marx-Biografie ich ihr empfehlen könnte. Ich hatte zwar ein paar Marx-Biografien bei mir herumstehen, hatte mich aber nicht intensiv mit ihnen beschäftigt. Mehring schien mir solide, aber doch recht alt, Cornu extrem ausführlich, aber nur auf den jungen Marx beschränkt, Wheen ganz unterhaltsam, wobei mir damals noch nicht klar war, wie viel in Wheens Buch frei erfunden war. Eine eindeutig beste Biografie konnte ich nicht nennen, und umso mehr ich nach einer suchte, umso mehr musste ich feststellen, dass die vorliegenden Biografien recht unbefriedigend waren. Mein Interesse war aber geweckt und ich überlegte mir, wie eine gute Biografie aussehen sollte, was für eine Marx-Biografie ich mir wünschen würde, bis ich dann selbst schließlich anfing, eine zu konzipieren, aber noch lange nicht sicher war, ob ich tatsächlich jemals eine schreiben würde.

Soweit der zufällige Anstoß. Dass ich diesen Anstoß so bereitwillig aufgenommen habe, war weniger zufällig. Bei meiner ganzen Beschäftigung mit der Marxschen Theorie ging es eigentlich immer um deren Entwicklung. Ich hatte schon früh eingesehen, dass man die einzelnen Marxschen Texte als Entwicklungsschritte sehen muss, dass man fragen muss, was waren die jeweiligen Fragestellungen, was war der jeweilige Marxsche Kenntnisstand etc. Schon in meiner politikwissenschaftlichen Diplomarbeit ging es um die Entwicklung des Konzepts „Kapital im Allgemeinen“ von den „Grundrissen“ bis zum „Kapital“. Auch in der „Wissenschaft vom Wert“ ist die Frage, wie sich die Kritik der politischen Ökonomie herausgebildet hat, von großer Bedeutung. Wenn man aber detailliert die Theorieentwicklung eines Autors betrachtet, dann stößt man zumindest am Rande auch auf biographische Ereignisse, wann hat der Autor sich womit beschäftigt, was hat ihn dazu motiviert? Insofern war es nicht so ganz zufällig, dass ich auf diesen Anstoß, mich mit der Marxschen Biografie zu beschäftigen, reagiert habe.

Das Interesse an biographischen Fragen ist das eine, selbst eine Biografie zu verfassen, sich mit biographischer Forschung zu beschäftigen, ist aber noch mal etwas ganz anderes. Es gibt eine ganze Reihe von zum Teil auch sehr umfangreichen Marx-Biografien. Warum jetzt noch eine von Dir?

Es gibt ca. 30 umfangreichere Marx-Biografien. Die Entscheidung selbst eine Marx-Biografie zu schreiben ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe Ideen aufgeschrieben, ich habe mir Gedanken über Konzeptionen gemacht, aber das war erstmal nur eine Art Spielerei. Ich habe auch nicht mit vielen Leuten darüber gesprochen, ich wollte nicht etwas ankündigen, was ich dann vielleicht doch nicht machen würde. Aber irgendwie hat mich dieses Projekt einer Marx-Biografie immer mehr gepackt und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr habe ich auch gemerkt, wie unzureichend die vorliegenden Marx-Biografien sind. Es gibt nicht nur eine Vielzahl sachlicher Fehler, häufig wird das Material so ausgewählt, dass damit ein bereits vorhandenes Marx-Bild gestützt wird. Beim Lesen hatte ich oft den Eindruck, es soll nicht etwas erforscht werden, es soll lediglich etwas bestätigt werden. Da versuche ich offener ranzugehen und auch genau zu unterscheiden, was ist durch Quellen belegt und was ist nur eine mehr oder weniger plausible Vermutung. Bereits in dieser Hinsicht sind viele Biografien recht fragwürdig, Spekulationen des Autors werden häufig als Tatsache präsentiert, mit Quellen wird unkritisch umgegangen, nicht selten werden sie nicht mal genau angegeben.

Die allermeisten Marx-Biografien sind aber noch in anderer Weise unzulänglich: Leben und Werk werden weitgehend voneinander getrennt. Auguste Cornu und bis zu einem gewissen Grad auch David McLellan versuchten das anders zu machen, aber beide Werke sind schon über 40 Jahre alt, der Kenntnisstand, sowohl was die biographischen Fragen betrifft als auch die Marxschen Manuskripte, ist erheblich veraltet. Die Aufgabe Leben und Werk gleichermaßen in den Blick zu nehmen, bleibt, und ich muss sagen, dass ich auch genau diese Verbindung besonders spannend finde.

Aber was sind denn nun die Verbindungen von Leben und Werk? Probleme der Theorie lassen sich doch nicht durch Hinweise auf die Biografie entscheiden.

Letzteres ist sicher richtig. Aber warum z.B. Marx bestimmte theoretische Probleme zu einer bestimmten Zeit als besonders drängend empfunden hat und zu einer anderen Zeit als weniger wichtig, das hat mit der politischen Situation zu tun, in die er mit seinen Texten intervenieren wollte. Das hat mit Auseinandersetzungen zu tun, in die er verwickelt war, die dann auch neue Fragen für die Theorie aufgeworfen haben. Diese Wechselbeziehung von Leben und Werk ist nicht nur an einzelnen Punkten gegeben. Wenn wir das Gesamtwerk von Marx überblicken, dann stellt es im Grunde genommen eine Reihe von großangelegten Unternehmungen dar, die er angefangen hat, die er unterbrochen hat, die er aufgegeben hat, nur um dann ein etwas anderes, etwas verändertes Projekt anzugehen, das ebenfalls nicht zu Ende geführt wurde, worauf dann das nächste Projekt folgte. Das beginnt bereits mit der Marxschen Dissertation von 1841, die eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Schulen der nach-aristotelischen Philosophie einleiten sollte. Aber es gab nie eine Fortsetzung, nicht einmal die Dissertation wurde von Marx veröffentlicht. Die berühmten „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ sollten eine Kritik der Nationalökonomie liefern, der weitere Kritiken folgen sollten, die Marx nie geschrieben hat und so geht es munter weiter. Diese verschiedenen abgebrochenen Projekte sind keineswegs Ausdruck eines beliebigen Hin- und Herschwankens, in ihnen werden vielmehr Fortschritte bei der Untersuchung der ökonomischen und politischen Verhältnisse sichtbar. Die Abbrüche und die erneuten Anfänge haben aber nicht allein innertheoretische Gründe, sie haben auch mit den Marxschen Lebensumständen, mit den verschiedenen politischen Konflikten zu tun, in die er involviert war. Andererseits haben die gewonnenen Einsichten auch einen unmittelbaren Einfluss auf Marx‘ Verhalten in diesen Konflikten. Wenn ihm bestimmte politische Strategien nicht mehr einsichtig waren, dann mussten alte Bündnisse aufgekündigt und neue geschlossen werden.

Die Beziehungen zwischen Leben und Werk spielen sich aber nicht nur auf der Ebene der unmittelbaren Konflikte ab. Nach der Niederlage der Revolution von 1848 ging Marx wieder nach Paris ins Exil, er sprach fließend Französisch, er hatte dort viele Verbindungen, er hätte als Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften seinen Lebensunterhalt verdienen können. Die preußische Regierung drängte jedoch auf seine Ausweisung aus Paris. Nur deshalb ging Marx nach London, „freiwillig“ hätte er das niemals gemacht: Er sprach kein Englisch, hatte dort weit weniger Verbindungen und keine Verdienstmöglichkeiten, er lebte dort mit seiner Familie auch erstmal in einem ziemlichen Elend. London, das Herz des britischen Kapitalismus, war damals aber der einzige Ort auf der Welt, an dem ein Buch wie das „Kapital“ geschrieben werden konnte. Es gab dort nicht nur eine Presse, die ökonomische Themen intensiv diskutierte, ein Parlament, das wichtige Untersuchungsberichte zu ökonomischen und politischen Fragen veröffentlichte, sondern es gab dort auch die weltgrößte Bibliothek, ein Faktor, der damals viel wichtiger war als heute. Hätte Marx in Paris bleiben können, wäre er vielleicht sogar von dort nach einigen Jahren wieder nach Deutschland zurückgekehrt, dann hätte er bestimmt auch einige wichtige Bücher geschrieben, aber wahrscheinlich nichts, was mit dem „Kapital“ vergleichbar gewesen wäre.

Das sind wirklich spannende Geschichten. Aber liegt darin nicht vielleicht auch eine Gefahr, dass Geschichte wieder individualisiert wird, dass das Marxsche Werk ausschließlich als Werk eines großen Genies erscheint? Gegen die Auffassung von Geschichte als dem Werk „großer Männer“ wurde ja – nicht zuletzt von Marxschen Auffassungen inspiriert – viel Kritik vorgebracht. Das Gleiche gilt auch für die Ideengeschichte. Statt die großen Genies zu untersuchen, richtete z.B. Michel Foucault die Aufmerksamkeit auf die Formation von Diskursen. Wie verortest Du Dein Projekt in diesen Debatten?

Dass man die Rolle eines Individuums im geschichtlichen Prozess untersucht, heißt nicht automatisch, dass man eine individualisierende Auffassung von Geschichte hat. Natürlich ist auch Karl Marx ein Produkt seiner Zeit. Deshalb spielen nicht nur seine Familienverhältnisse, sondern auch die zeitgeschichtlichen Umstände und auch die Diskurse, von denen er geprägt wurde und auf die er sich bezieht, in meiner Biografie eine ganz wichtige Rolle. Und das alles ist für mich nicht bloß Hintergrund, aus dem man dann ein paar Anregungen identifizieren kann, die Marx aufgenommen hat. Es geht für mich immer auch um die Frage, was war in der jeweiligen Zeit eigentlich möglich zu denken, wo hat sich Marx da angeschlossen und wo ging er darüber hinaus? In vielen Biografien steht einzig die porträtierte Person im Mittelpunkt, die alles andere überstrahlt. Das kann dann schnell in Richtung Geniekult gehen. Aber das muss nicht so sein. Eine biographische Untersuchung muss nicht im Widerspruch zu den Einsichten der Sozialgeschichte stehen oder zu dem, was Foucault „Archäologie des Wissens“ genannt hat. Im Gegenteil, für mich macht es eigentlich nur innerhalb einer solchen Rahmung Sinn, mich mit der Rolle eines einzelnen Individuums zu beschäftigen. Insofern unterscheidet sich mein Projekt auch im methodischen Vorgehen von vielen anderen Marx-Biografien. Um das transparent zu machen, enthält der erste Band einen Anhang über „Biographisches Schreiben“, in dem ich deutlich mache, welche Konsequenzen ich aus den verschiedenen literatur- und geschichtswissenschaftlichen Debatten über die Möglichkeiten und Grenzen von Biografien gezogen habe.

Eine letzte Frage. Wie sieht es mit der politischen Relevanz deines Projektes aus? Gibt es eine solche oder ist es eher ein rein wissenschaftliches Unternehmen?

Zunächst mal würde ich die Entgegensetzung von „rein wissenschaftlich“ und „politisch relevant“ in Frage stellen. Zumindest wenn es sich um eine die Gesellschaft betreffende Wissenschaft handelt, ist immer eine politische Relevanz vorhanden, die ist manchmal gut sichtbar, manchmal vielleicht auch etwas versteckt. Was nun die von mir anvisierte Marx-Biografie angeht, sehe ich eine politische Relevanz auf mehreren Ebenen.

Da ist zunächst mal Marx in seiner Zeit mit seinen politischen Konflikten, die sind – jedenfalls zum Teil – ähnlich wie manche der heutigen Konflikten: Welche Bedeutung hat Pressefreiheit? Wie geht eine radikale Linke mit parlamentarischen Institutionen um? Wie sollten linke Organisationen strukturiert sein? Was können kurzfristige, was können langfristige politische Forderungen sein? Ich will nicht behaupten, dass die Marxschen Antworten auf diese Fragen immer richtig gewesen sind, oder dass man damalige Strategien heute einfach kopieren könnte. Aber aus der genauen Analyse solcher Konflikte kann man durchaus einige Anregungen mitnehmen, wie man bestimmte Sachen machen oder vielleicht auch nicht machen sollte.

Eine andere – politische – Ebene sind die Marx-Biografien selbst, sie sind Interventionen in die Auseinandersetzung um Marx und die Marxsche Theorie. Im 20. Jahrhundert lieferten viele von Marx-Kritikern verfasste Biografien regelrechte Zerrbilder von Marx, während manche Marxisten einen Marx ohne Fehl und Tadel beschrieben, der immer schon auf dem richtigen Weg war und dabei immer besser wurde. Die neueren Biografien sind nicht mehr ganz so platt, aber auch sie vermitteln zuweilen ganz explizit politisch relevante Botschaften. So erklärte z.B. Jonathan Sperber in seiner 2013 erschienenen Marx-Biografie, er wolle zeigen, dass Marx völlig im 19. Jahrhundert verwurzelt ist und uns heute nichts mehr zu sagen hat. Nicht ganz so extrem, aber in eine ähnliche Richtung argumentiert auch Stedman Jones in seiner 2016 erschienenen Biografie. Als Forschungshypothese ist das überhaupt nicht zu beanstanden. Nur haben beide Autoren, gelinde gesagt, keine allzu gründlichen Kenntnisse der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und den neueren über sie geführten Debatten, was sie aber von weitreichenden Urteilen nicht abhält. Diese Urteile, wie begründet oder nicht begründet sie auch sein mögen, spielen dann aber in der Diskussion über Marx eine wichtige Rolle. Insofern finde ich es schon ganz wichtig, hier einiges zurechtzurücken und deutlich zu machen, dass einige Urteile doch eher Vorurteile sind.

Und schließlich kann eine Biografie, die gleichermaßen Leben und Werk behandelt, auch bei der Benutzung und Einordnung der Marxschen Texte helfen. Durch die seit 1975 erscheinende und noch längst nicht abgeschlossene Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA) verfügen wir heute über weit mehr und weit besser edierte Texte von Marx und Engels als jede Generation vor uns. Die MEGA machte klar, dass die schon lange bekannten Schriften von Marx und Engels eigentlich nur die Spitze eines riesigen Eisberges sind, dessen Umfang und Struktur wir erst so langsam erkennen. Dabei kommt nicht nur viel Neues zu Tage, auch das bereits Bekannte erscheint teilweise in einem neuen Licht. Es gibt ja viele Leute, die glauben, über Marx und die Marxschen Theorien sei schon so viel gesagt und geschrieben worden, dass da nichts Neues mehr hinzukommen könne. Ich sehe das eher umgekehrt, wir stehen erst am Anfang der Debatten und ich hoffe, mit meiner Marx-Biografie auch eine Art Wegweiser durch diese vielen neuen oder auch neu beurteilten Texte zu liefern.